JÜDISCHES LEBEN

6jähriger Junge


Zeitzeuge Ralph Drüke (aus einem Brief an den Ökumenischen Kreis „Wir Christen in Oelde“)

„Damals war ich ganz stolz, als mich meine Eltern als „i-Männchen“ auf dem leeren flachen Handwagen, den sie vom nahen Schreiner geliehen hatten, durch die Stadt zogen, bis zu dem Kaffee, in dessen kleinem Saal Jahre später die Klassenkameradinnen mit uns Jungs die ersten Tanzschritte übten.

Aber nun war der Raum gefüllt mit den unterschiedlichsten Möbeln, die billig verkauft wurden. Sofort waren die Verwüstungen und schlimmen Geschichten der „Kristallnacht“ ganz frisch in unserem Gedächtnis. Auch unser erstes Diktat „Die Juden sind eine fremde Rasse. Sie sind Plutokraten und Verbrecher. Sie leben von der Arbeit anderer Menschen, sie lieben nichts als das Gold“ war mir damals (wie heute) vor Augen und im Sinn.

Und nun wurden hier, in dem friedlichen Kaffee Möbel verschachert, die SA-Männer und ihre Helfer und Helfershelfer den Juden brutal geraubt hatten.

Und mein Vater, engagierter Sozialdemokrat, noch 33, als die SPD bereits aufgelöst war, als Gewerkschafter in den Stadtrat gewählt, ging hin, um Möbel zu kaufen, die man den Juden gestohlen hatte.

Was konnte meine Eltern dazu bewogen habe? Es standen nur solche Stücke in dem Saal, die weniger solide waren, als die, welche ich gerade als Sperrmüll am Straßenrand sah. Die guten Teile hatten sich die Nazi-Bonzen vorher ausgesucht.

Wie konnte ich den Zwiespalt ertragen?

Noch kurz zuvor musste sich Vater über Monate jeden Morgen bei der Polizei melden, weil sie in der Kneipe die „Internationale“ gesungen hatten. Und nur der Schläue und Wohlgesonnenheit des Polizisten, der sie verhörte, konnten er und seine Kumpel verdanken, dass sie nicht ins KZ kamen, wie es vielen Kommunisten und Parteifreunden erging.

Wie schlimm es sein musste, hatte ich schon aus den Bruchstücken der Gespräche entnommen, die heimlich zu Hause geführt wurden.

Neun Fehler hatte ich in dem Hetzdiktat gegen die Juden und erhielt von Vater, dem Rechtschreibung als Setzer eigentlich ein hohes Gut war, für jeden Fehler einen Groschen, d.h. mindestens einen Stundenlohn. Natürlich war mir das sehr, sehr peinlich. Doch bald verstand ich die Botschaft, mit der er den judenfeindlichen Text verachtete.

Und nun „kauften“ meine sozialdemokratischen Eltern Möbel aus dem Raubgut. Wie passte das zusammen? Wie hätte ich das verstehen können? Wollten sie sich dadurch tarnen?

Nach dem Krieg suchte mein Vater Kontakt zu dem ersten Juden, der nach Oelde kam, den er schon von früher her kannte. Ihm bot er die damals erworbenen Möbel an. Doch wollte jener weder den Schrank noch eine Entschädigung – verständlicherweise nach dem geschehenen Unrecht – annehmen.

Mich belastete dieser ständige Zwiespalt sehr:

In der Schule und in den Nachrichten die glorreichen Siege der tapferen Soldaten, gleichzeitig in der Bultstraße eine Todesnachricht nach der anderen von den Freunden meiner älteren Schwester. Sie mussten ihre Begeisterung für´s „Kriegspielen“ mit dem Leben bezahlen (Söhne vom Schuster, Schmied, Müller, Bäcker, Monteur, Fabrikarbeiter): alle damals 18, 19 Jahre alt.

Wiederum zwiespältig wurde mein Vater – zwar widerwillig – NSDAP-Mitglied, um sich vor Nachstellungen zu schützen. Ihre Abneigung gegen das System bezeugten meine Eltern z.B. bei den vielen Sammlungen für das Winterhilfswerk, Eintopfersparnisse usw., indem sie nur Pseudopfennige in die Sammelliste eintrugen.

Gleichzeitig hörte ich später in der Schule: „Kriege sind Gott gewollt.“, „Es war ein Jüngling, kaum von 14 Jahr, er scheute nicht den Tod fürs Vaterland“, „Ich trage die Fahne“… (Letzteres hatte ich mich geweigert zu lernen und kam ohne Tadel davon).

Die Sondermeldungen über unsere glorreiche Armee wurden mir sehr fragwürdig, wenn Vater von den Verlusten sprach, die der BBC gesendet hatte.

Dann die Spannung, die aus meiner Freundschaft mit dem Nachbarsjungen, dem Sohn des Nazi-Schulleiters entsprangen und dadurch Vaters Angst entsprang, ich könnte seine Gesinnung verraten. Nur Mutter, die ja auch weniger zu fürchten hatte, rügte Vater öfter, wenn er auf der Straße den Arm allzu straff zum Gruß ausgestreckt hatte.

Und über allem erinnerte mich der billige, weiß lackierte Fichtenschrank mit der passenden Wickelkommode immer wieder an die Pogromnacht, in der ich meinen Schulkameraden und Gefährten aus dem Bernhardus-Kindergarten, Walter Fritzler, nie wiedersah.

In manch dunklen Träumen verstecke ich mich noch immer wieder zwischen den Möbeln auf dem flachen Handwagen, damit mich niemand sehen kann.

 (Zeitzeugenbericht aus „Spur der Stolpersteine in Oelde“; herausgegeben vom Ökumenischen Kreis „Wir Christen in Oelde“ – Elisabeth und Peter Lewanschkowski)



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